Verloren im Influencer-Hype? Wie Theater Kindern echte Erfahrungen schenkt.
Die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen ist heute stark von Prozessen der Mediatisierung geprägt. Digitale Plattformen wie TikTok, Instagram oder YouTube gehören zum Alltag junger Menschen und strukturieren maßgeblich ihre Freizeit, ihre Kommunikationsformen und ihre Wahrnehmungsmuster. Influencer*innen übernehmen dabei eine Vorbildfunktion, die oftmals stärker wirkt als klassische Autoritäten in Familie, Schule oder Verein. Inhalte, die in Form von kurzen, emotional stark verdichteten Videoclips konsumiert werden, prägen Erwartungshaltungen an Unterhaltung, Aufmerksamkeitsspannen und Selbstinszenierung.
Diese Dauerberieselung durch Kurzvideos wirkt auf der Ebene der Erfahrungstypen ambivalent. Einerseits eröffnet sie niederschwellige Zugänge zu Information, Unterhaltung und sozialer Teilhabe; andererseits führt sie zu einer Verflachung von Erlebnistiefe, die in der Pädagogik als Verlust an Primärerfahrungen beschrieben wird. Primärerfahrungen sind unmittelbare, sinnlich-leibliche Erfahrungen in der realen Welt – also Handeln, Spüren, Interagieren in einer Weise, die nicht medial vermittelt ist. Gerade für Kinder und Jugendliche sind sie von hoher Bedeutung, weil sie Selbstwirksamkeit, leibliche Resonanz und soziales Miteinander in einer Tiefe ermöglichen, die virtuelle Umgebungen nur begrenzt bieten können.
Die Folgen der einseitigen Mediatisierung lassen sich im pädagogischen Alltag beobachten: verkürzte Aufmerksamkeitsspannen, ein gesteigertes Bedürfnis nach permanenter Reizstimulation, Unsicherheit im direkten sozialen Kontakt sowie Schwierigkeiten, eigene innere Bilder und Fantasie jenseits vorgefertigter medialer Muster zu entwickeln.
Hier eröffnet die Theaterpädagogik einen zentralen Gegenraum. Sie ermöglicht Kindern und Jugendlichen das Eintauchen in Erfahrungsformen, die auf körperlicher Präsenz, unmittelbarer Interaktion und kreativer Gestaltung beruhen. Im Theaterspiel stehen nicht die konsumierten Bilder anderer im Vordergrund, sondern die eigene schöpferische Ausdruckskraft. Kinder erleben in der Darstellung von Rollen, im gemeinsamen Spiel oder im Erproben szenischer Formen ein unmittelbares Zusammenspiel von Stimme, Bewegung, Emotion und Imagination. Dies sind genuine Primärerfahrungen, die Resonanzräume schaffen, welche digitale Medien nicht ersetzen können.
Kunst- und Theaterpädagogik wirken somit als Korrektiv zur Dominanz mediatisierter Erfahrungswelten. Sie fördern Selbstwirksamkeit, Empathiefähigkeit und ästhetische Urteilskraft, indem sie Kinder und Jugendliche in Situationen bringen, in denen sie aktiv gestalten statt passiv konsumieren. Gerade angesichts der Macht von Influencern und der algorithmisch gesteuerten Bilderfluten brauchen junge Menschen Räume, in denen sie sich als Subjekte erleben, die ihre Welt mitgestalten können.
Für eine zeitgemäße Bildungsarbeit bedeutet dies nicht, digitale Lebenswelten zu negieren oder zu dämonisieren. Vielmehr geht es darum, die Spannung zwischen Mediatisierung und Primärerfahrung bewusst zu thematisieren. Theaterpädagogische Praxis kann hier Brücken schlagen: indem sie etwa ästhetische Ausdrucksformen der digitalen Kultur (z. B. Kurzvideos, Memes) in den kreativen Prozess integriert, aber in den Dienst unmittelbarer Begegnung und Reflexion stellt. So wird der digitale Alltag der Jugendlichen ernst genommen, gleichzeitig jedoch erweitert und geerdet in Primärerfahrungen, die für ihre Persönlichkeitsentwicklung unverzichtbar sind.