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Ausweitung der Wahrnehmung – Ästhetik, Theater und die doppelte Natur des Menschen (Teil 1)
Vom Schönen zum Sinnlichen – Eine kleine Geschichte der Ästhetik
Wenn wir heute im theaterpädagogischen Kontext von „ästhetischer Erfahrung“ sprechen, ist damit weit mehr gemeint als nur das „Schöne“ im klassischen Sinne. Der Begriff Ästhetik hat eine lange und bewegte Geschichte – und genau diese Entwicklung hilft uns, das pädagogische Potenzial von Theaterarbeit besser zu verstehen.
Vormoderne: Ordnung, Maß und metaphysische Schönheit
Der Ursprung des Wortes liegt im Altgriechischen: αἴσθησις (aísthēsis) bedeutet „Wahrnehmung“ oder „Empfindung“. Schon in der Antike beschäftigten sich Denker wie Platon und Aristoteles mit dem Schönen, verstanden als Ausdruck von Harmonie, Maß und innerer Ordnung. Doch dabei war Ästhetik noch nicht als eigenständige Disziplin ausgebildet – sie war eingebettet in ethische und metaphysische Fragen: Was ist gut, wahr – und schön? Schönheit war Teil einer göttlich-kosmischen Ordnung, kein autonomes Erfahrungsfeld.
Moderne: Subjektivität, Bildung und Kunst als Selbsterkenntnis
18. Jahrhundert: Geburt einer Disziplin
Erst mit der Aufklärung beginnt sich Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin zu entwickeln. Alexander Gottlieb Baumgarten definierte sie als „Lehre von der sinnlichen Erkenntnis“. Damit verschob sich der Blick: Nicht nur das Denken, auch das Fühlen und Wahrnehmen wurden philosophisch ernst genommen. Die Subjektivität des Menschen, sein sinnliches Verhältnis zur Welt, rückte ins Zentrum.
Klassik & Romantik: Ästhetik als Bildungskraft
Spätestens mit Friedrich Schillers berühmten „Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ (1795) wurde klar: Ästhetische Erfahrung hat Bildungskraft. Sie verbindet Sinnlichkeit mit Vernunft, öffnet innere Räume, in denen Menschen wachsen, sich ausdrücken und entwickeln können – ein Gedanke, der später zentrale Bedeutung für die Theaterpädagogik gewinnen wird.
Im Zentrum steht dabei das sogenannte „Reich des Scheins“ – ein Raum des Spiels, der Kunst, der Darstellung. Nicht unwirklich, sondern als Freiraum, in dem sich das Menschsein in seiner doppelten Natur entfalten kann: Sinnlich und vernünftig, triebhaft und moralisch. Der Mensch, so Schiller, ist „zur Freiheit berufen“ – doch die reine Vernunft allein vermag ihn nicht dorthin zu führen. Der „sittliche Vernunftstaat“, so seine Kritik an Kant, scheitert am unüberbrückten Antagonismus zwischen Pflicht und Trieb. Erst die ästhetische Erfahrung bringt diese Gegensätze ins Schwingen – nicht durch Unterdrückung, sondern durch spielerische Entfaltung.
Das Verhältnis von Kunst und Pädagogik ist bei Schiller deshalb nicht funktional, sondern wechselseitig begründend: Kunst bildet, indem sie nicht belehrt, sondern bewegt. Pädagogik wird zur ästhetischen Aufgabe – nicht als Anleitung zum guten Leben, sondern als Eröffnung von Erfahrungsräumen, in denen Menschen sich selbst gestalten lernen.
„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“
Gerade im Theater – wo Körper, Gefühl, Sprache, Imagination und soziale Interaktion zusammenspielen – wird das sichtbar, was Schiller „ästhetische Freiheit“ nennt: ein Raum, in dem Menschen nicht auf Rollen, Funktionen oder Zwecke reduziert werden, sondern als ganze, fühlende, denkende, handelnde Wesen in Erscheinung treten. Ein Raum, in dem sich Bildung nicht als Anpassung, sondern als Selbstwerdung im Spiel vollzieht.
19. Jahrhundert: Die Kunst tritt ins Zentrum
Im 19. Jahrhundert – dem Hochzeitalter der idealistischen Moderne – wurde Ästhetik zunehmend als Kunstphilosophie verstanden. Für Hegel war Kunst der sinnliche Ausdruck des Geistes – also einer geschichtlichen, kulturellen Entwicklung des Denkens. Ästhetik wurde zur Bühne, auf der sich die Menschheit selbst zeigt und erkennt. Kunst ist in dieser Sicht ein Medium der Welt- und Selbsterkenntnis – getragen von geschichtsphilosophischem Ernst.
Ausblick: Was heißt das für die Theaterpädagogik?
In der Theaterpädagogik spielt Ästhetik heute eine zentrale Rolle – nicht im Sinne eines bestimmten Stils oder Schönheitsideals, sondern als pädagogische Haltung, als Zuwendung zur sinnlichen, leiblichen, performativen Erfahrung.
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Impro versus Schultheateraufführung
Wir kennen sie alle noch aus unserer Schulzeit: die altehrwürdige Schultheateraufführung. Eine Handvoll blasser Schülerinnen und Schüler vergreift sich, häufig angefeuert von einem überambitionierten Deutschlehrer, an einen der beliebten Theaterklassiker. Bert Brecht, Schiller und Büchner stehen seit Jahrzehnten auf der Beliebtheitsskala der Germanisten ganz hoch im Kurs.
Meist wird der wohlgesonnene Zuschauer Zeuge, wie die Jungschauspieler mehr oder weniger teilnahmslos die viel zu langen, häufig noch gereimten Texte aufsagen und dabei völlig vergessen, dass sie auch auf der Bühne einen Körper besitzen, den sie ins Spiel einbeziehen können. Während sich manches stolze Elternteil gedanklich schon die glanzvolle Zukunft ihres Sprösslings als Theaterschauspieler ausmalt, fragt sich ein dort eher zufällig anwesender Zeuge des Schauspiels mitunter, warum es eigentlich immer der „Gute Mensch von Sezuan“ sein muss, mit dem die 13-jährigen Schüler traktiert und letztendlich überfordert werden.
Und während Shen Te noch den berühmten Satz „Oh ihr Unglücklichen! Euerm Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu! Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?“ rezitiert, grübelt der geneigte Zuschauer vielleicht darüber nach, ob denn nicht das „Improtheater“, das ihm vor einigen Tagen auf einer Kleinkunstbühne so vortrefflich unterhalten hat, viel geeigneter für Schauspielanfänger sei.
Viele Gründe scheinen dafür zu sprechen: Weder müssen die Spieler seitenlange Texte auswendig lernen, noch sich mit den schwierigen und mitunter angestaubten Gedanken der Theaterdichter auseinandersetzen. Auch aufwändige Kostüme und Kulissen werden obsolet. Der Aufwand reduziert sich auf ein Minimum. Zudem wird noch die Spontanität trainiert – eine Fähigkeit, die in unserer Gesellschaft bekanntlich immer wichtiger wird! Die ideale Schauspielform für Theaterneulinge also?
Aus meiner Sicht ist da viel Wahres dran und doch spiegelt es nur die halbe Wahrheit wieder. Mit der Methode der „Improvisation“ wird an Schauspielschulen und während der Theaterproben seit Jahrzehnten erfolgreich gearbeitet. Die Spieler sollen zu einem authentischen Ausdruck finden, d.h. erst einmal den Text vergessen und die Rolle erspielen!
Das ist nach wie vor genial und sicherlich notwendig. Der Theatererneuerer Keith Johnstone hat dies als Theaterform ausgebaut und als „Theatersport“ weltweit erfolgreich vermarktet.
Seitdem können wir vielerorts Theatersportaufführungen bewundern und dürfen – im Idealfall – einen gelungenen und unterhaltsamen Theaterabend erleben. Meist wird dabei viel gelacht – die nachdenklichen Spielszenen bleiben allerdings die Ausnahme. Schließlich will man den vom Alltag gestressten Zuschauer nicht mit zu anspruchsvollen Fragen und vielschichtigen Gedanken verwirren.
So betrachten Theatermacher die Improvisation auch eher als eine Methode, die bei der Erarbeitung einer Theaterinszenierung Anwendung findet. Sicherlich würden sie diese selbst kaum als „Improtheater“ bezeichnen, noch dies für erstrebenswert halten.
Gibt es also noch mehr als… Improvisationstheater? Ja, es gibt, antwortet da der leidenschaftliche Theatermensch. Modernes Theater versteht sich schließlich kaum noch als reines „Literaturtheater“. Der Text dominiert nicht mehr das Theatergeschehen, es ist zu einem Element von vielen geworden. Auch müssen es nicht mehr die vom Dichter in Verse gepressten Dialoge sein, die das Publikum in Ekstase versetzen. Moderne Theatermacher sehen sich eher als DJs, die aus Nachrichtentexten, O-Tönen von Zeitzeugen und anderen literarischen Erzeugnissen eine Textcollage erschaffen, die gleichberechtigt zu Videoeinspielungen, Tanzchoreographien und musikalischen Livedarbietungen steht. Bekannt geworden ist diese Spielweise u.a. durch die Theatergruppe Rimini Protokoll, die zu gesellschaftlich relevanten Themen sogenannte Alltagsspezialisten, d.h. Laiendarsteller auf die Bühne geholt haben.
Es bleibt also viel zu entdecken! Das europäische Theater blickt auf eine über zweitausendjährige Tradition zurück, die einstmals bei den alten Griechen begann. Wir verfügen also über ein nahezu unerschöpfliches Reservoir aus Ideen, Geschichten und Bildern. Zudem überflutet uns das Internetzeitalter tagtäglich mit neuen Eindrücken, die verarbeitet, durchlebt und getanzt werden wollen. Es gibt also viel zu erzählen und zu zeigen, fangen wir an! -
Kreatives Theaterspiel im Unterricht – Schule lebendig gestalten
Was hat Theater eigentlich mit Schule zu tun?
Für viele ist Theater in der Schule gleichbedeutend mit einstudierten Märchen, großen Aufführungen und Lampenfieber kurz vor der Premiere. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Theaterpädagogik kann viel mehr. Sie ist ein Werkzeugkoffer für Kommunikation, Beziehung und Entwicklung – besonders im schulischen Kontext.
Ich erlebe immer wieder, wie sehr Kinder davon profitieren, wenn sie in andere Rollen schlüpfen dürfen, sich ausdrücken können – ohne bewertet zu werden. Theater in der Schule bedeutet nicht zwangsläufig eine große Bühne, sondern beginnt oft im Kleinen: mit einem gemeinsamen Spiel, einem Perspektivwechsel, einem mutigen „Ich trau mich!“.
Was bringt Theaterpädagogik im Schulalltag?
- Förderung sozialer Kompetenzen: Kinder lernen, zuzuhören, sich abzugrenzen, in Gruppen zu agieren und Verantwortung zu übernehmen.
- Stärkung des Selbstwerts: Wer auf der Bühne steht, zeigt sich – und wird gesehen. Gerade für stille oder unsichere Kinder kann das empowernd sein.
- Perspektivwechsel und Empathie: Im Spiel erleben Kinder, wie es sich anfühlt, jemand anderes zu sein. Das schafft Verständnis und baut Vorurteile ab.
- Sprachförderung und Ausdruck: Theater macht Sprache lebendig – besonders wichtig für Kinder mit Sprachbarrieren.
- Kreativität im Schulalltag: Wo sonst ist Raum für Fantasie, Quatsch, Ausprobieren – jenseits von richtig und falsch?
Keine große Inszenierung nötig
Nicht jede theaterpädagogische Arbeit muss in einer Aufführung münden. Im Gegenteil: Manchmal wirkt das Spiel im geschützten Raum viel intensiver. Kleine Szenen, Rollenspiele, Standbilder, Körpersprache – all das kann in einer Unterrichtsstunde stattfinden, ganz ohne Kulissen oder auswendig gelernte Texte.
In meinem Ansatz verbinde ich theaterpädagogische Übungen oft mit Themen aus dem Schulalltag: Streit, Freundschaft, Angst, Mut, Anderssein. Gemeinsam entwickeln wir Szenen, manchmal auch einfach nur Stimmungen, in denen die Kinder erleben: Ich darf sein. Ich darf spielen. Ich darf gestalten.
Theater als Raum der Möglichkeiten
In einer Welt, die immer schneller, digitaler und leistungsorientierter wird, braucht Schule Erfahrungsräume, die nicht vermessen und benotet werden. Theaterpädagogik bietet solche Räume. Sie schafft Möglichkeiten zur Selbstwahrnehmung, zum Perspektivwechsel – und zur Begegnung.
Ich lade dich ein, mit mir diesen Weg weiterzudenken: Wie kann Theaterpädagogik im Schulalltag verankert werden? Welche Methoden funktionieren auch ohne Fachraum und große Bühne? Und was brauchen Kinder heute, um mutig durchs Leben zu gehen?